Steilküste und Steinterrassen, Meeresbrandung und Maultierpfade prägten das Leben in den „fünf Landen“, den Kommunen Monterosso, Vernazza, Corniglia, Manarola und Riomaggiore, die – 100 km östlich der modernen Metropole Genua – wirken wie pittoreske Kulissen aus dem tiefsten Mittelalter. Was den Touristen heute wie himmlische Abgeschiedenheit anmutet, bedeutete für die Einheimischen über Jahrhunderte höllische Armut. Mit tausenden von Kilometern Trockenmauern rangen die fleißigen Ligurer den Felswänden fruchtbaren Boden ab. Wurde die Riviera dei Fiori schon sehr früh für den Fremdenverkehr erschlossen, blieben die Cinque Terre bis heute schwer zugänglich, bewahrten so aber viel ursprünglichen Charme, der andernorts Betonbettenburgen und Teutonengrills geopfert wurde. Das UNESCO-Weltkulturerbe Cinque Terre steht als Chiffre für noch heile, aber bedrohte Lebensräume, die ein „Europa der Regionen“ erhalten sollte, bevor das „global village“ allen individuellen Charakter verschwinden lässt.
Die alten Römer eroberten ein Reich, von dessen Größe und Organisation die EU nur träumen kann. Aber an den nur etwa 20 km langen, halsbrecherischen Felsvorsprung der Cinque Terre wagten selbst diese Pioniere der Infrastruktur sich nicht heran und führten ihre Via Aurelia lieber über Pässe im nahen Hinterland. Erst im kriegerischen Mittelalter wurde diese „splendid isolation“ zum Standortvorteil, und die fünf Städtchen krallten sich in den Stein wie Adlerhorste. Abenteuerlich getürmte, bunt bemalte Quaderhäuschen schachteln sich kreuz und quer übereinander als Riesenbauklötzchen und scheinen von weitem wie ein kubistisches Kunstwerk im impressionistischen Rahmen.
Die Fischerkähne liegen in Riomaggiore und Manarola kieloben auf der Piazza und werden zu Wasser gelassen wie Rettungsboote beim Ocean-Liner, wobei das senkrecht abfallende Steilufer der Bordwand entspricht. Trotzdem landeten Piraten, um das einzig Wertvolle zu rauben, was das raue Land hervorbrachte: Menschen, die keine harte Arbeit scheuten, aber die tosende See eher mieden. Ursprünglich lagen die Siedlungen daher viel höher am Berg, woran noch fünf Marienwallfahrtskirchen dort erinnern. Sogar Baden ist nur an kleinen Stränden oder zwischen Klippen möglich und bei Seegang allein Wagemutigen zu empfehlen. Dafür ist hüllenloses Bräunen keine Affäre, denn auch wo es jeder von oben sehen kann, kommt keiner vor Sonnenuntergang hin.
Die meisten Männer mussten und müssen ohnehin ihr Geld verdienen in La Spezia, Genua, Germania oder auf den Schiffen der sieben Meere. Votivtafeln schildern anschaulich die Gefahren der Hochseeschifffahrt, obwohl nur Vernazza (Foto links) und Monterosso kleine Häfen besitzen. Die Daheimgebliebenen kultivierten die unwirtliche Vertikale durch horizontale muri a secco – mörtellose Steinmäuerchen –, die den Berg in „Dauerwellen“ legten, und deren volle Länge über 7.000 Kilometer betragen soll – fast so lang wie die Chinesische Mauer, aber gelegen im „Reich des Abseits“. So entstand über Generationen ein grandioses Gesamtkunstwerk, das sowohl als Weltkultur- wie -naturerbe anzusehen ist. Oliven, Reben, Kastanien und Obst wurden einst auf 2000 Hektar angebaut. Heute erzeugen 600 Mitglieder der Weinbauern-Kooperative Cinque Terre auf rund 100 Hektar gerade mal 300.000 Bottiglie, denn Maschinen lassen sich auf den schmalen Terrassen und den Steilwegen kaum einsetzen. Manch salzhaltige Rebenlese kann nur im Nachen eingefahren werden. Auch balancieren Erntehelferinnen Traubenkörbe auf dem Kopf und schreiten anmutig wie Tempeltänzerinnen. Doch derlei live-Folklore gehört bald ins Reich der Romantik.
Der weiße Volastra oder der honiggelbe Sciacchetrà, ein 12 Jahre lagernder Desserttropfen aus gedörrten Trauben und im unverfälschten Original eher unter dem Ladentisch gehandelt, gelten als Delikatessen. Aber keiner will mehr die Fron am Hang. So ist dies steinerne Paradies aus Menschenhand bedroht von Erosion, denn die heftigen Winterregenfälle könnten die ganze Küstenvegetation ins Meer schwemmen. Seit 1985 hat sich Rom zwar offiziell zum Erhalt dieses „Steinzeit“-Ensembles bereit erklärt, aber Papier ist geduldig, und ganz Italien ist so sehr gesegnet mit Kulturklassikern aus drei Jahrtausenden, dass es für die Finanzen ein Fluch ist.